Original Veröffentlichung: Pandemie mit Strategie? | DEMOKRATIE IN BEWEGUNG - DiB
Der zweite Lockdown ist in vollem Gange, gemeinsam starren wir auf den sogenannten Inzidenzwert (Summe der Neuinfektionen geteilt durch die Einwohnerzahl von Kreis oder Stadt multipliziert mit 100.000). Wer soll wann und wie wieder öffnen? Eine wirklich entscheidende Rolle spielt dabei das Risiko einer Ansteckung. Eine aktuelle Studie zeigt, wo es besonders hoch ist.
Nach wie vor wird ein wenig gerĂ€tselt, wo denn immer wieder und plötzlich auftauchende hohe Inzidenzwerte herkommen. Dabei wird der wichtige R-Wert vernachlĂ€ssigt (Reproduktionszahl, die angibt, wie viele Menschen eine infizierte Person in einer bestimmten Zeiteinheit im Mittel ansteckt.) Steigt der Wert ĂŒber 1, steigen die Infektionszahlen. Je höher der R-Wert, desto schneller steigen die Infektionen also an.
Eine Studie der Technischen UniversitĂ€t Berlin (TU) hat dazu neue Erkenntnisse geliefert. Ausgangsfrage war dabei: Wie hoch ist das Ansteckungsrisiko in geschlossenen RĂ€umen? Eine Frage, die an diesen kalten Tagen nicht nur im Privaten, sondern auch bei möglichen Ăffnungen aktuell geschlossener Einrichtungen oder Betrieben besonders relevant ist. Das Ergebnis kurz zusammengefasst: In BĂŒros und Schulen sind Menschen einem höheren Risiko ausgesetzt als etwa beim Friseur oder im Theater. Immer vorausgesetzt, dass die Hygiene-, Abstands- und LĂŒftungsregeln eingehalten werden.
DEMOKRATIE IN BEWEGUNG fordert schon lange eine langfristige Strategie fĂŒr den Umgang mit der Pandemie und deren BewĂ€ltigung. Die BerĂŒcksichtigung des R-Wertes unter Einbeziehung der unterschiedlichen RĂ€umlichkeiten ist mit Blick auf die Ăffnung von KindergĂ€rten und Schulen besonders wichtig.
Aber warum ist das so?
Die TU Berlin entwickelte zusammen mit der Berliner CharitĂ© und dem Robert-Koch-Institut ein Infektionsrisiko-Modell, das raumbezogen genutzt wurde. Damit lĂ€sst sich ein situationsbedingter R-Wert ableiten. BerĂŒcksichtigt wurden dabei Aufenthaltsdauer, Luftstrom und die Art der AktivitĂ€ten im Raum (zum Beispiel Liegen, Sitzen, Sport, wenig oder viel Sprechen). Entscheidend fĂŒr das Infektionsrisiko ist die eingeatmete Dosis an Aerosol-Partikeln, die neben der AusstoĂmenge auch von der AtemaktivitĂ€t (Quelle und EmpfĂ€nger) sowie der Aufenthaltsdauer im Raum abhĂ€ngt. ZusĂ€tzlich setzt die Studie die Einhaltung der AHA+L Regeln voraus, das heiĂt dass gelĂŒftet und Abstand gehalten wird. AuĂerdem geht man davon aus, dass eine Alltagsmaske oder eine medizinische Maske mit einer Filtereffizienz von 50 Prozent getragen wird.
Die Ergebnisse sind logisch: ein Supermarkt mit Maskenpflicht kommt auf einen R-Wert von 1 bei einem einstĂŒndigem Aufenthalt (leichte körperlichen TĂ€tigkeit mit wenig Sprechanteil). Bei einem zweistĂŒndigen Theaterbesuch mit einer Belegung von 30 Prozent und Maskenpflicht auch auf dem Sitzplatz ist nach der Studie das Risiko fĂŒr eine Infektion nur halb so hoch wie im Supermarkt. Bei einer weiterfĂŒhrenden Schule, in der RĂ€ume nur zu 50 Prozent belegt sind und es eine Maskenpflicht gibt (sechs Stunden Aufenthalt), wird der R-Wert hingegen auf 2,9 beziffert; ohne Maske liegt der R-Wert hier doppelt so hoch. Das schlechteste Ergebnis kommt zum Schluss: In einem BĂŒro mit mehreren Personen und einer um 50 Prozent reduzierten Belegung und einer Aufenthaltsdauer von acht Stunden ohne Maskenpflicht wird im Schnitt ein R-Wert von 8 erreicht â eine infizierte Person steckt hier also maximal acht weitere Menschen an.
Die Werte fĂŒr Schulen zeigen, dass die politische Rede von der Bedeutung des PrĂ€senzunterrichts einen Fehler hat. Denn diese hohe Ansteckungsgefahr wird von den politischen EntscheidungstrĂ€ger*innen schlicht ignoriert. Das aber hat nichts mit Verantwortung fĂŒr die Kinder und Jugendlichen zu tun, im Gegenteil. Der Höhepunkt ist aber die Wirtschaft: Im letzten FrĂŒhjahr gelang es noch, 27,8% der BeschĂ€ftigten im Home Office arbeiten zu lassen. Bis Anfang Januar 2021 war der Anteil nicht mal halb so hoch. Ăber Kontrollen zur Einhaltung der AHA Regeln in den groĂen Wirtschaftsbetrieben gibt es keine Angaben.
Noch sind wir mitten im zweiten âLockdownâ, aber schon wird eine heftige Diskussion darĂŒber gefĂŒhrt, welcher Sektor wann, wie und unter welchen Bedingungen wieder öffnen darf. Eine echte, logisch nachvollziehbare und datengestĂŒtzte Strategie ist immer noch nicht erkennbar. Wenn wir als Gesellschaft den dritten und vierten âLockdownâ verhindern wollen, wird deutlich, dass mindestens eine No-Covid-, besser eine Zero-Covid-Strategie gebraucht wird. (Unterschiede hier)
Aktuelle Fassung der TU Studie vom 16. Februar 2021 (Prof. Dr. Martin Kriegel, Leiter des Hermann-Rietschel-Instituts an der TU Berlin)