Original Veröffentlichung: Corona und der Niedriglohnsektor | DiB
Die Corona-Krise zeigt uns besonders im Niedriglohnsektor gesellschaftliche MissstĂ€nde auf. Seine Ausweitung sollte Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte in Arbeit bringen, hat sich aber lĂ€ngst fĂŒr viele BeschĂ€ftigte als Sackgasse erwiesen. Nur einem Viertel aller NiedriglohnbeschĂ€ftigten gelingt der Aufstieg, wĂ€hrend die HĂ€lfte ĂŒber viele Jahre oder dauerhaft im Niedriglohnsektor verharrt. Seit 2018 sind es ca. 7,7 Millionen Menschen mit einem Verdienst unter dem Mindestlohn von 11,40 Euro, aktuell ist er auf 9,35 Euro gesunken.
Warum sind wir mit unserem Niedriglohnsektor in Europa so weit vorne?
Obwohl wir in Deutschland einen Mindestlohn haben, ist der Niedriglohnsektor bei uns einer der gröĂten in Europa. Die Corona Krise macht deutlich, dass unser Wirtschafts- und Sozialssystem an dieser Stelle ein grundlegendes Funktionsdefizit hat. Krisenbedingt steigt der Problemdruck parallel in mehrfacher Hinsicht.
In den Niedriglohnsektoren sind BeschĂ€ftigte von den ökomomischen Folgen der Pandemie besonders hart betroffen. Keine andere BeschĂ€ftigengruppe ist so hart von Kurzarbeit betroffen und muss so massive EinkommenseinbuĂen hinnehmen. Sozialpolitische KompensationsmaĂnahmen (z.B. Aufstocken des Kurzarbeitergeldes) greifen gerade fĂŒr die Niedriglohngruppen am wenigsten. Damit sorgt die Corona-Krise fĂŒr eine deutliche Zunahme der sowieso stark ausgeprĂ€gten Lohn- und Einkommensungleichheit in Deutschland.
Parallel zeigt die Corona-Pandemie, dass fast alle der als âsystemrelevantâ benannten TĂ€tigkeiten und Berufe extrem schlecht bezahlt sind. Hier gibt es aufgrund der hohen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung dieser BeschĂ€ftigtengruppen eine unfassbare soziale Schieflage. Eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine deutliche Aufwertung der Bezahlung ist zwingend erforderlich.
Wann ist ein Lohn Niedriglohn?
Lohn gilt, international anerkannt, als Niedriglohn, wenn er geringer als zwei Drittel des Medianlohns (das mittlere Einkommen aller VollzeitbeschĂ€ftigten) ist. Danach arbeiten, je nach Datenlage, ein FĂŒnftel bis zu einem Viertel aller BeschĂ€ftigten in Deutschland im Niedriglohnsektor der in keinem anderen westeuropĂ€ischen Land so groĂ ist. In (z.B.) Finnland, Schweden, DĂ€nemark, Frankreich, Belgien oder Italien liegt der Anteil der im Niedriglohnsektor tĂ€tigen Menschen unter 10 Prozent. Nur einige LĂ€nder in Osteuropa (Estland, Kroatien, Polen, Litauen, RumĂ€nien und Lettland) haben einen gröĂeren Niedriglohnanteil.
Die GröĂe des Niedriglohnsektors ist seit 2010 relativ konstant. Der gesetzliche Mindestlohn und seine Erhöhungen hat daran nichts geĂ€ndert, weil das Niveau des Mindestlohns immer unterhalb der Niedriglohnschwelle blieb.
Vor allem Frauen sind betroffen.
Die Niedriglohnschwelle lag 2018 bei 11,05 Euro pro Stunde, 7,7 Millionen BeschĂ€ftigte arbeiten seitdem dort. Der Sektor weist eindeutige Strukturmerkmale auf: mehr als 60 Prozent aller NiedriglohnempfĂ€nger*innen sind Frauen. Der sehr hohe Gender-Pay-Gap hat seine Hauptursache im Niedriglohn. Erschwerend kommt hinzu, dass der Niedriglohnsektor im Osten mit knapp 30 Prozent deutlich gröĂer als im Westen (knapp 20 Prozent) ist. BeschĂ€ftige mit Migrationshintergrund im Niedriglohnsektor sind deutlich ĂŒberreprĂ€sentiert.
Sie alle arbeiten zudem fast nur in bestimmten Arbeitssektoren: in den Dienstleistungsbranchen Einzelhandel, Gastgewerbe, Reinigung, Bildung, Gesundheit, Soziales, in der Landwirtschaft, einigen Bereichen der Nahrungsmittelindustrie (u.a. Fleischwirtschaft). Der geringe Verdienst liegt nicht an einer mangelhaften Ausbildung. Mehr als 60 Prozent haben einen Berufsabschluss, weitere 10 Prozent einen Hochschulabschluss.
In der Corona-Krise sind NiedriglohnbeschĂ€ftigte von den wirtschaftlichen Folgen ganz besonders getroffen. Wer sowieso ein niedriges Einkommen hatte, wird nun besonders oft und stark von weiteren EinkommenseinbuĂen betroffen. Im Schnitt aller Einkommen sind 26 Prozent der ErwerbstĂ€tigen von Einkommensverlusten betroffen. Der Anteil unter den ErwerbstĂ€tigen mit einem Nettoeinkommen unter 1.500 Euro im Monat liegt mit 40 Prozent deutlich höher.
Der Niedriglohnsektor ist meist systemrelevant.
FĂŒr die Aufrecherhaltung des gesellschaftlichen und sozialen Lebens sind die meisten Gruppen im Niedriglohnbereich unersetzlich. Das betrifft die Landwirtschaft, die Produktion von Nahrungsmitteln und anderen GĂŒtern des tĂ€glichen Bedarfs, den Einzelhandel, den Bereich der öffentlichen Infrastruktur mit Ver- und Entsorgung, Transport, Reinigung und Sicherheit und den gesamten Gesundheits- und Sozialwesen. Fast alle der systemrelevanten BeschĂ€ftigtengruppen werden deutlich unterhalb des Durchschnitts bezahlt und erfuhren, zumindest vor Ausbruch der Pandemie, wenig gesellschaftliche Anerkennung und WertschĂ€tzung.
Eine schnelle Verbesserung wĂ€re die sofortige Anhebung des Kaitz-Index (VerhĂ€ltnis von Mindestlohn zu nationalem Medianlohn) von derzeit 48 Prozent auf die international anerkannte Schwelle von 60 Prozent. Das wĂŒrde zu einer sofortigen Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro fĂŒhren. Um diese Ausbeutung ein fĂŒr alle Mal zu beenden, fordert DEMOKRATIE IN EUROPA die EinfĂŒhrung eines bedingungslosen Grundeinkommens.