Original Veröffentlichtung: Wie ostdeutsch ist die Bundesrepublik? | DEMOKRATIE IN BEWEGUNG - DiB
Bereits vor der Ernennung von Dr. Franziska Giffey (SPD) zur Bundesministerin fĂŒr Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist die Frage erneut aufgeflammt, wie breit eigentlich ostdeutsche Interessen in der Bundespolitik und auch der Wirtschaft reprĂ€sentiert werden. Bundestagswahlen und die Sitzverteilung im Bundesrat zeigen, dass Wahlen im Kontext deutsch-deutscher Geschichte auch mit der eigenen Herkunft gewonnen werden.
Die heutigen Leerstellen von Ostdeutschen unter den Eliten belegen, dass sich Eliten in der Regel aus sich selbst rekrutieren. Und nach dem Beitritt der DDR zur BRD verloren nachweislich so gut wie alle ostdeutschen Eliten ihre Stellung. Zum Teil weil sie mit der SED oder dem Ministerium fĂŒr Staatssicherheit verquickt waren, zum Teil aber auch durch diskriminierende Vorurteile â also allein aufgrund ihrer ostdeutschen Biografie. In der Wissenschaft bezeichnet man diesen Mechanismus zur Auslese als âGatekeepingâ und er kann in diesem Fall durchaus als eine Ursache fĂŒr die heutigen Leerstellen angefĂŒhrt werden. Der PrĂ€sident der Bundeszentrale fĂŒr politische Bildung, Thomas KrĂŒger, bezeichnet die westdeutsche Strukturdominanz im gesamten Bundesgebiet sogar als âkulturellen Kolonialismusâ.
Fakten
Die Studie âWer beherrscht den Osten?â aus dem Jahr 2016 belegt, dass 70% der Regierungsmitglieder und 46% ihrer StaatsekretĂ€rinnen in den neuen BundeslĂ€ndern eine ostdeutsche Biografie hatten. In den Kommunen der neuen LĂ€nder liegt ihr Anteil bei fast 100% der Land- oder GemeinderĂ€te. Dieser hohe Anteil trifft auch auf kommunale BĂŒrgermeisterinnen zu, wobei diese in der Regel ĂŒberparteilich oder gar parteilos gewĂ€hlt sind. Drei von 22 Hochschulrektorinnen, 78 von 585 Richterinnen an obersten deutschen Gerichten und zwei von zwölf Leitungspositionen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten MDR, NDR und RBB haben eine ostdeutsche Biografie. Zwei von 23 Verlagsleiterinnen und GeschĂ€ftsfĂŒhrerinnen haben eine ostdeutsche Biografie. Warum? Weil sich vier im Westen ansĂ€ssige Verlage den ostdeutschen Zeitungsmarkt aufgeteilt haben. Die Hoheit ĂŒber Personal und Inhalte liegt also in westdeutschen Verlagen.
Diese Zahlen zementieren auf den ersten Blick den Eindruck der wahrgenommenen SiegermentalitĂ€t, die eine der zĂŒgigsten und auch ernĂŒchterndsten Folgen des Beitritts der DDR zur BRD waren. Die Konflikte zwischen Ossis und Wessis wurden symbolhaft durch die AusdrĂŒcke âJammer-Ossiâ und âBesser-Wessiâ. Das GefĂŒhl der Fremdbestimmung ehemaliger DDR-BĂŒrger*innen durch Eliten aus dem Westen tĂ€uscht nicht, wenn Netzwerke aus dem Westen keine EinflĂŒsse durch den Osten zulassen. Auch hier findet Gatekeeping gegenĂŒber Problemen statt, die im Osten existieren, aber von Eliten aus dem Westen aufgrund anderer Herkunft und Sozialisation nicht verstanden und damit nicht behoben werden können.
Dr. Gregor Gysi (Die Linke) hat einst in einem Interview gesagt, dass der Beitritt der DDR zur BRD wie der Einzug in die Wohnung der eigenen Tante ist; man muss sich anpassen und die fremde Ordnung akzeptieren, obwohl man mehrere Jahrzente lang seine eigene Ordnung gelebt hat. Ich ziehe daraus den Schluss â und die Zahlen der Studie belegen dies â dass die Schaffung einer gemeinsamen Ordnung in einer gemeinsamen Wohnung lange nicht stattfinden konnte.
Der böse Westen?
HĂ€tten die Menschen in den alten BundeslĂ€ndern vor dem 3. Oktober 1990 gewusst, dass Berlin Bonn als Hauptstadt ablösen wird oder dass ein SolidaritĂ€tszuschlag eingefĂŒhrt wird, hĂ€tte im Vorfeld eine kontroverse Debatte ĂŒber das Handeln Helmut Kohls stattgefunden. Denn der Fairness halber muss man festhalten, dass viele westdeutsche Gemeinden heute ebenfalls auf einen SolidaritĂ€tszuschlag beispielsweise fĂŒr die Entwicklung der Infrastruktur angewiesen wĂ€ren. Viele Milliarden, die auch in den alten BundeslĂ€nderns nötig gewesen wĂ€ren, fehlen dort bis heute. Genau deswegen zeichnet sich das vereinte Deutschland seit den 1990er Jahren weniger durch SolidaritĂ€t und hoffnungsvolle Neugier aus, sondern durch Neiddebatten, der Bedienung von Vorurteilen und Angst vor dem Ungewissen auf beiden Seiten. Einen Vorwurf kann man also nicht dem Westen machen, sondern nur seinen Eliten.Daraus sollten zukĂŒnftige Generationen lernen, dass soziale und politische DurchlĂ€ssigkeit ein Grundpfeiler der Demokratie sein mĂŒssen.
Denn nur so können alle Interessen gleichberechtigt vertreten werden. Faire Interessenvertretung muss also nicht nur zwischen MĂ€nnern und Frauen, sondern unter anderem auch zwischen denen herrschen, die unterschiedlicher deutscher Herkunft sind. Es muss unsere Aufgabe sein, den Begriff der ParitĂ€t weiterzufassen und ihn nicht auf Geschlechter zu begrenzen. Gleichberechtigter ost- und westdeutscher Einfluss auf Parlamente, in zivilgesellschaftlichen Organisationen, Vereinen und Entscheidungsetagen von Unternehmen mĂŒssen das langfristige Ziel sein. Ich meine damit aber keine Quoten fĂŒr Ostdeutsche. Denn Quoten sind fĂŒr mich nur eine BrĂŒckentechnologie zur Herstellung paritĂ€tischer VerhĂ€ltnisse. Ich rede auch nicht davon, Ostdeutsche bei gleicher Qualifikation zu bevorzugen â obwohl dies im Falle von Bundesministerin Giffey sehr wahrscheinlich der Fall war. Aus meiner Sicht ist sie absolut geeignet und qualifiziert in ihrer Position ist, doch war eigentlich Eva Högel (SPD) dafĂŒr vorgesehen.Den 'Osten' ĂŒberwinden?
Der 'Osten' als Begriff wird zunehmend von einigen Journalist*innen als etwas bezeichnet, das sich ĂŒberlebt hat und als ĂŒberholt abgestempelt. Dem möchte ich widersprechen! Die Mehrheit der Ostdeutschen identifiziert sich nach einigen Umfragen heute mehr denn je mit seiner Herkunft und IdentitĂ€t. Denn sofort nach dem Beitritt der DDR zur BRD wurde unter anderem durch westdeutsche Eliten damit begonnen, Identifikatoren der ostdeutschen Herkunft zu demontieren. Ob das der Abriss des Palastes der Republik war, die Umbenennung von StraĂen und PlĂ€tzen oder der Abriss von DenkmĂ€lern. In kĂŒrzester Zeit mussten wenigstens 16 Millionen Menschen der Abwicklung der eigenen Heimat und in groĂen Teilen des eigenen Arbeitsplatzes durch die Schmach der Treuhandanstalt machtlos zusehen.So eine Wunde verheilt nur langsam â und in einigen FĂ€llen nie. Daher ist es wichtig, die Geschichte der deutschen Teilung, ihr Ende und ihre Folgen nicht zu vergessen. Und dafĂŒr benötigt man weiterhin die Differenzierung in âOstenâ und âWestenâ. Auch im Hinblick auf paritĂ€tische Macht- und Beteiligungsoptionen fĂŒr Menschen mit Ostbiografie.
Nichtsdestotrotz findet natĂŒrlich eine Erosion der Geschichtserinnerung statt. Die Generation, die spĂ€testens ab 1995 geboren ist, wird von ganz allein GrĂ€ben ĂŒberwinden, die sie selbst gar nicht mehr als GrĂ€ben wahrnimmt. Und auch das ist zu begrĂŒĂen. Es handelt sich hier um einen Teil eines geschichtlichen Gutes, der nur ambivalent betrachtet werden kann.
DEMOKRATIE IN BEWEGUNG hat sich diesem Thema mit einem eigenen Internetportal gewidmet. Auf Nachwendezeit bieten wir an, Geschichtsaufarbeitung zu leben.
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ÂQuellen: