Du behauptest allen Ernstes, die Hamas ist eine Gefahr solange es Tunnel gibt? Oder anders herum, wenn alle Tunnel zerbombt sind, ist die Hamas erledigt? So einfach ist das für mich nicht.
Ich behaupte vielmehr, dass die Hamas nur existiert, weil die Menschen in den sogenannten palästinensischen Gebieten seit Jahrzehnten, also seit Generationen, so viel Unterdrückung, Unrecht, Schikane und vor allem auch Gewalt erfahren, bis hin zum Tod. Das ist so offensichtlich zu erkennen, dass mir keiner kommen braucht, um mir etwas anderes zu erzählen. Und weil die Welt zuschaut und sich einen Dreck darum kümmert. Zuletzt in der Ermordung vieler Tausend Menschen in Gaza. Offizielle Zahlen sprechen von rund 42.000 Toten, darunter 16.000 Kinder. Inoffizielle Zahlen von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen meinen, die Dunkelziffer dürfte eher bei deutlich über 100.000 Menschen liegen, da unzählige Menschen noch vermisst werden.
Dass da Menschen heranwachsen, die all dieses Leid und Unrecht nicht mehr ertragen und irgendwann selbst zu Gewalt greifen, muss einen nicht wundern. Und so gewinnt man auch die Überlebenden nicht. Die bleiben Feinde. Umso erbitterter, je verheerender ihre Häuser zerschossen, ihre Felder verbrannt, ihre Leben verwüstet wurden. Das nährt die Hamas. In den Köpfen, in der Seele. Unabhängig ob es Tunnel oder andere Verstecke für die Kriegsführung gibt.
Und ja, Israel darf sich verteidigen gegen Gewalt, die von außen kommt. Aber in der aktuellen Situation noch von Verteidigung zu sprechen ist der blanke Hohn und Menschenverachtung pur. Das können nach meinem Empfinden nur Menschen, die vollkommen empathielos gegenüber dem Leid Hunderttausender Menschen sind, die nun auf der Flucht sind, oder verletzt, traumatisiert oder inzwischen auch getötet. Die Menschen in Gaza, und wir alle wissen, dass ein Großteil davon Frauen und Kinder sind, können dem unmenschlichen Morden doch gar nicht entfliehen. Wo sollen sie denn hin? Politische Stimmen in Israel fordern übrigens offen, diese auszuhungern, so lange bis alle Hamaskämpfer getötet sind. (Nachweis am Ende). Das, was gerade in Gaza passiert, ist meiner Meinung nach nicht mit unserem Humanismus, unserem Verständnis von Menschenwürde und unserer Moral vereinbar.
Präsident Netanyahu hat schon vor gut einem Jahr (28.10.2023) in einer Rede, deren Video auch jetzt noch in den Sozialen Medien zu finden ist, offen zur biblisch legitimierten Vernichtung aller Palästinenser*innen aufgerufen, die er mit “Amalek” vergleicht. Was sagt das Alte Testament über “Amalek”? Es sagt Folgendes: „Darum zieh jetzt in den Kampf und zerstöre “Amalek.“ Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel” (1. Samuel 15:3). Netanyahu hat schon damals ausdrücklich alle Palästinenser*innen, nicht nur die Hamas, mit dem biblischen Erzfeind gleichgesetzt und dämonisiert. Genau so handelt die Israelische Regierung seitdem.
Israelische Soldaten und andere Menschen, auch in der israelischen Regierung, die es feiern, wenn wieder einmal ein Treffer Dutzende unschuldiger Menschen getötet und verletzt hat, die Spaß daran haben, zuvor erschossene palästinensische Kinder mit dem Fuß von Dächern zu treten (dieses übrigens nicht in Gaza, sondern im illegal besetzten Westjordanland!), die sich am Foltern, Misshandeln und Misshandeln von Gefangenen ergötzen und sich auch nicht scheuen dies aller Welt über die Sozialen Medien mitzuteilen, sind genauso unmenschlich und krank und keinen Deut besser als diejenigen, die vor einem Jahr die gleichen Gräueltaten beim Überfall auf das Festival begangen haben. Das ist keine Verteidigung, das ist Rache und der pure Hass. Oder vielleicht „Amalek“? Ich habe keine Ahnung, ehrlicherweise kannte ich den Begriff vorher nicht, musste erstmal googeln.
Immer mehr Menschen, auch jüdische, formulieren inzwischen deutlich, dass sie sich dafür schämen und auch wütend sind, was da angeblich in ihrem Namen passiert. Zumal ja von verschiedenen Seiten der israelischen Regierung offen ausgesprochen wird, dass Israel Gaza und Westjordanland endlich für sich haben möchte. (taz: Sicherheitsminister Ben-Gvir bei der Gaza Konferenz im Januar 2024: „Wir müssen legale Wege finden, um die Palästinenser zur Emigration zu bewegen“).
Diese Kritik an der Regierung und deren Unterstützer*innen auszusprechen kostet sie oft sehr viel Mut, weil man halt allzu oft gleich in die Antisemitismusschublade gesteckt wird. Ich ahne schon, dass es mir auch hier mit diesem Beitrag so gehen könnte. Trotzdem möchte ich wenigstens einmal meine Gedanken hier loswerden, ansonsten bemühe ich mich um Zurückhaltung. Ich bin auch nicht auf eine lange Diskussion hierzu aus, die hatte ich zum Beispiel schon mit @Kai.Dorra an anderer Stelle und die hat auch nicht dazu geführt, dass wir letztlich zusammenfinden konnten. Ich habe nicht die Zeit und vor allem nicht die Kraft, hier auf dem Marktplatz meiner “Herzenspartei” Menschenrechte verteidigen zu müssen. Aber dieses eine Mal musste ich heute doch meine Gedanken und Gefühle gerade auch hier loswerden.
Ich bin solidarisch mit allen Menschen, die Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung erfahren, mit Jüd*innen genauso wie mit Palästinenser*innen oder anderen Nationalitäten.
Frieden in Israel/Palästina kann es meines Erachtens erst dann geben, wenn sowohl die jüdische/israelische Bevölkerung als auch die palästinensische eigene Gebiete haben, in denen sie selbstbestimmt und sicher leben dürfen. Dass dies seit Jahrzehnten nicht so ist, habe ich bei meiner Israelreise 2009 selber erfahren, und ich weiß dies auch, weil ich inzwischen Familienangehörige habe, die in der Westbank leben. Wo auch aktuell palästinensische Bauern von ihrem Land von Siedlern mit Hilfe der israelischen Armee vertrieben werden und ihre Dörfer für Siedlungen für Israelis einfach plattgemacht werden. Unrecht und Gewalt geschieht dort jeden Tag. Menschen, die nicht schnell genug wegrennen oder sich den Israelis sogar in den Weg stellen, um ihre Familien oder ihr Eigentum zu schützen, werden oftmals skrupellos erschossen. Nicht erst seit dem 7.10., aber seither gefühlt deutlich mehr. Zu Recht hat der internationale Gerichtshof die Besatzung der palästinensischen Gebiete im Juli diesen Jahres für illegal erklärt.
Ach ja, vielleicht noch ein Buchtipp für alle, die versuchen wollen, die Situation der Palästinenser*innen, die in Israel in Gaza und in der Westbank leben (müssen) ein bisschen nachzuvollziehen. Anhand einer einfachen Geschichte wird jüdisches und palästinensisches Leben in Israel sehr eindrücklich dargestellt. Das Buch hat übrigens den Pulitzer Preis erhalten, und dies obwohl sich etliche große Verlage in Deutschland nicht getraut hatten, es zu verlegen. Das Thema sei ihnen zu heikel. Erst ein kleiner Verlag erklärte sich nach längerer Suche bereit, das Buch zu verlegen. Solche Probleme gab es übrigens nur in Deutschland, nicht in den anderen zahlreichen Ländern, wo es auch erschien.
“In seinem gut recherchierten Werk, das wenige Tage vor dem Anschlag am 7. Oktober 2023 veröffentlicht wurde, geht Nathan Thrall nicht nur auf die komplexe Geschichte der Besetzung ein, vielmehr macht er sichtbar, was oft übersehen wird: das Leben der Menschen in einem zerrütteten Land.”
Ein Tag im Leben von Abed Salama – Nathan Thrall, Lucien Deprijck | buch7 – Der soziale Buchhandel
ich selbst habe es noch nicht ganz durch, aber ich glaube, es ist wirklich geeignet, die Situation in Israel für alle Menschen, die dort leben, aber speziell natürlich der Palästinenser*innen, nachzuempfinden.
Zum Schluss noch zwei Nachweise:
Deutschlandfunk vom 08.08.2024:
Wie unter anderem Haaretz berichtet, hatte sich Israels Finanzminister Anfang der Woche zu den rund zwei Millionen palästinensischen Bewohnern des Gazastreifens geäußert. Demnach sagte er, es wäre moralisch und richtig, sie zu Tode hungern zu lassen, bis die von der Terrororganisation Hamas verschleppten Geiseln freigelassen würden. Allerdings werde die Welt Israel das nicht tun lassen.
ntv vom 03.01.2024
Ultrarechte wollen Umsiedlung: Berlin und Paris kritisieren Gaza-Pläne israelischer Minister - n-tv.de
“Der ultrarechte Minister Ben Gvir von der Partei Jüdische Kraft hatte den Abzug der Palästinenser und die Wiedererrichtung israelischer Siedlungen im Gazastreifen als „eine korrekte, gerechte, moralische und humane Lösung“ bezeichnet. Der Krieg sei eine Gelegenheit, die „Umsiedlung der Bewohner des Gazastreifens“ zu fördern. Smotrich von der Partei Religiöser Zionismus hatte vorgeschlagen, Israel solle die Palästinenser im Gazastreifen „ermutigen“, in andere Länder umzusiedeln. Wenn Israel richtig vorgehe, werde es eine Abwanderung von Palästinensern geben, „und wir werden im Gazastreifen leben“, sagte der israelische Finanzminister einem Armeesender.”
Ich würde mir wünschen, dass mein Beitrag hier vielleicht zum Nachdenken anregt und dass sich die Leser*innen hier vielleicht darauf besinnen, dass Menschenleben nicht einfach als Kollateralschaden gesehen werden dürfen. Jedes Leben zählt. Jedes einzelne.
Eure Sabine
Israelische Zeitung zum Jahrestag des Überfalls